Sonntag, 31. August 2014

Wischtelefone und Krawatten im Überwachungsstaat.

Ein Leben ohne diese Wischtelefone ist möglich. Auch wenn es dazu aktuell keine gesicherten Erkenntnisse mehr gibt. Es scheint fast so, dass man als Nachweis, dass man überhaupt lebt, alles entweder mit diesem Telefon fotografieren oder filmen muss. Obwohl es ein Telefon ist. Meine Eltern hatten eins mit Wählscheibe. Und Schnur. Wirefull. Bilder konnte man damit nicht machen. Noch nicht mal Full HD telefonieren. Ging auch.Also das Telefonieren hauptsächlich. Und für die Erinnerung gab es Fotoalben. Für wichtige Ereignisse. Nicht für jedes Mittagessen oder eine Weintraube, die gelangweilt am Rebstock baumelt. Wär ja auch viel zu teuer gewesen.
Mein Vater konnte keine Krawatten binden. Er trug sie dennoch täglich. Er hatte dazu so komische Plastidreiecke mit Gummis dran. Da wurde die Krawatte dann drauf geknotet und er musste die nur noch mit dem Gummi am Kragen befestigen. Nachteil Vorteil: Da er die Krawatte ja nicht um den Hals führte, war das hintere dünne Ende immer viel zu lang. Das wurde vorn in den Hosenbund gesteckt. So hatte er noch eine zusätzliche Wärmequelle für das Gehirn. Als für das, womit Männer Gerüchten zufolge denken. Wenn man ihn ärgen wollte, konnte man an der Krawatte ziehen und schnalzen lassen. Fand er doof. War aber lustig. Stört ihn jetzt auch nicht mehr.
Was hat das mit dem Wischtelefon zu tun?
Traf gestern auf der öffentlichen Keramik einen jungen Mann, der dabei war für die Hochzeit, welche die verbesserte Hälfte unbedingt sehen wollte, seine Krawatte zu binden. Auf dem Waschbecken lag ein Wischtelefon und ich dachte für einen Moment, dass er jetzt das Binden vom Schlips filmt. Hab ihn gefragt, ober jetzt einen Selfiefilm macht. Hat er aber nicht. Er hatte einen kleinen Film gespeichert, der ihm vormachte, wie der Schlips zu binden sei. Okay. Ich kannte den jungen Mann nicht. War wohl genervt von meiner Frage. Sah ja auch irgendwie anders aus, was er da geknotet hat. Hätte vielleicht nicht so dämlich grinsen sollen. Also ich. Konnte dann kein Foto machen. Hatte keine Lust durch die Nase Blut zu spenden. Oder so. Hab dann schnell das Weite gesucht. Zum Glück auch gefunden. Das Weite. Und den jungen Mann dann wieder entdeckt, wie er mit dem Wischtelefon Teile der Hochzeit filmte. Saß er doch vor mir. Gleich die kleine Nikon aus der Tasche gezaubert. Hat er gar nicht bemerkt. Konnte leider von hinten seinen Krawattenknoten nicht sehen. Egal. Wird schon irgendwas geworden sein. Sah ihn dann später auch nicht wieder.
Bin schon froh, dass es diese Telefone gibt, die einem in jeder Lebenslage, also wirklich in jeder Lage beistehen. Und ja, so eine Art von Bewusstsein bilden. Selbst-Bewusstsein, weil man ja immer nachsehen kann, ob man gestern zum Besipiel auch gelebt hat. Alles dokumentiert.
Aber das muss ja ich gerade sagen. Ich lauf ständig mit Wischtelefon und Kamera rum.
Muss echt mal drüber grübeln, was mir das bringt. Vielleicht bin ich ja nur virtuell?
Was soll's. Ob virtuell oder real, analog oder digital: Hauptsache alles dokumentiert. Ich beschwer mich ja auch nicht über den Überwachungsstaat. Ich mach das ja auch. Ich bin ja vielleicht sogar schlimmer. Oder auch nicht.
Jedenfalls: Hochzeit rum. Krawattenknoten alle wieder gelöst, alle Fotos und Filmchen gesichtert. Ca. 100.000 Bilder wurden gestern gemacht. Nicht von mir. So in der Summe. Grob geschätzt. Jeder Atemzug der Anwesenden wurde von irgendjemandem dokumentiert. Schönes Gefühl irgendwie.